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WILHELM HEINSE

VOM MUSIKALISCHEN GENIE UND VON DER PATHETISCHEN MUSIK

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ousseau und Jomelli — wie diese zwei Herren zusammengekommen sind, aus welcher Sprache ich diesen Dialog übersetzt, und woher ich ihn selbst erhalten, könnte ich meinen Lesern gleich sagen; denn alle Umstände davon sind mir bekannt. Allein, da ich weiß, daß man in meinem lieben Vaterlande gar nicht viel auf solche Nachrichten hält, und sie auch nicht zur besseren Verständlichkeit beitragen würden, so will ich dieses alles übergehen und zu den kleinen Vorerinnerungen schreiten, welche den Inhalt selbst betreffen.

Der Hauptendzweck der Musik ist die Nachahmung oder vielmehr Erregung der Leidenschaften. Aus der Erfahrung weiß man, daß die Melodie das mehrste dazu beiträgt. Die Melodie muß folglich etwas Ähnliches von den Leidenschaften in sich haben; und worin dieses Ähnliche bestehe, muß ein musikalisches Genie wissen. Diese Wissenschaft kann ihm unmöglich angeboren werden; also muß man sie aus der Erfahrung lernen. Wie dieses zu bewerkstelligen sei, glauben unsere Theorienmacher der schönen Künste und Wissenschaften vollkommen zu wissen. Allein, meine Herren! man glaubt sehr selten was Wahres! Die Regel, die Sie dazu gegeben hatten, schien mir so leicht auszuüben zu sein, daß ich mich oft darüber verwunderte, daß es doch so wenig musikalische Genies gebe, da man nach Ihrer Meinung so leicht eins sein könnte. Sie kam mir verdächtig vor. Ich las alle musikalischen Schriften nach, die ich nur haben konnte; allein keine unter allen diesen sagte etwas anderes; ich mußte also denken, sie hätten sich abgeschrieben, und wurde noch mehr in der paradoxen Sache bestärket: man schreibe nach der Erfindung der Buchdruckerkunst mehr ab als vor ihr! Nach diesem erschien das musikalische

Wörterbuch von Herrn Rousseau. Kein Mensch konnte begieriger sein, es zu lesen, als ich. Ich fing an zu lesen; allein wie war ich in meiner Erwartung betrogen, als ich auf der dritten Seite die nämliche Regel fand!

,,O Herr Übersetzer! immer von der Regel! Was ist es denn für eine? Wir wissen ja sonst nicht, was Sie haben wollen." Wie uns die Phantasie täuschen kann! Ich dachte, jeder wüßte sie, weil sie in allen Büchern stünde. Hier ist sie:,,Man muß sich Melodien in dem gewöhnlichen Diskour der Menschen, in der Deklamation der Menschen, die sich in Leidenschaft befunden, suchen!" oder, wie Rousseau sagt: „,Le chant melodieux n'est qu'une imitation paisible et artificielle des accens de la voix parlante ou passionnée." Oder wie Diderot, nach Aufführung einiger vortrefflichen lyrischen Verse:,,Qu'on abandonne ces vers à mademoiselle Dumeni; voilà, ou je me trompe fort, le desordre qu'elle y repandra; voilà les sentimens, qui se succederons dans son âme. Voilà ce que ce genie lui suggerera et c'est sa declamation que le musicien doit imaginer et écrire."

Herr Ramler und Herr Moses Mendelsohn und Herr usw. sagen das nämliche.

Es wäre höchst wunderbar, wenn nichts Wahres in der Regel sein sollte, da sie die größten Kenner des Schönen, des Vortrefflichen, des menschlichen Ohres und Herzens gegeben haben.

Vor wenigen Wochen bekam ich folgenden Dialog zu lesen und wurde sehr vergnügt, da Herr Jomelli diese allgemeine Regel für unrichtig ausgab. Herr Rousseau machte ihm alle nur möglichen Einwendungen, als ein echter griechischer Sophist; allein endlich gab er ihm doch recht. Ich will es dem Urteil der Leser überlassen, ob es ihm zur Schande gereiche oder nicht. Diese werden es am besten einsehen, welche sein vortreffliches musikalisches Wörterbuch gelesen haben.

Meine wahre Meinung davon zu sagen: so glaube ich, daß diese Regel ihren Ursprung aus der griechischen Musik habe. Bei dieser

Nation sollte alles schön sein. Schneider, Schuster und Töpfer gehörten mit unter die Klassen der Künstler. Und in ihrer Theorie der schönen Künste und Wissenschaften hatte man ein besonderes Kapitel: Von der Idealschönheit der Ofengabeln. Es war also kein Wunder, daß sie selbst die gewöhnliche Aussprache der Worte im gemeinen Leben zu einem Teil ihrer Musik machten. Redner und Gedichtableser mußten ein Ideal von Schönheit dieser Aussprache haben, worüber weiter nichts gehen durfte. Sie gelangten in allen ihren Künsten beinahe bis zum höchsten Grade. Ihre Sprache war überhaupt sehr musikalisch. Wir können uns keinen Begriff mehr davon machen, weil wir die echte Aussprache nicht eher erhalten können, als bis wir einmal die Aspasia und Lais wieder reden hören.

Man ist also gezwungen, zu glauben, daß sie selbst in ihrer gewöhnlichen Rede eine Melodie hatten, die aber freilich noch ganz roh sein mußte; aus dieser entstand die Deklamation, und aus dieser hinwieder der Gesang.

Allein unsere gotischen Sprachen und die griechischen sind himmelweit unterschieden. Wer kann nur die geringste Spur von Melodie in unserer natürlichen Rede finden? Doch man kann die ganze Ausführung in dem Dialog selber lesen.

Noch eine Vorerinnerung! Man bürde mir aus der Philosophie der Herren Rousseau und Jomelli nicht auf, was sie wider Deutschland gesagt haben. Was kann ich armer Übersetzer dafür, daß diese großen Leute so wanken! Ohne das Ganze zu verstümmeln, mußte ich alles beibehalten. Sie werden das Unbillige in ihrem Urteil in der Folge dieser Dialoge widerlegt finden, zum Teil auch nicht, je nachdem es die redenden Personen für gut erachten. Nun nichts mehr vom Vorberichten; es dürfte doch nicht eher verständlich sein, als bis Sie den Dialog selbst gelesen haben, womit Sie nun den Anfang machen können.

Rousseau. Welch ein Mann sind Sie! Was für ein Geist muß Sie beleben und Ihnen diese bezaubernden Gesänge eingeben? Ja, wie entzückend sang Elisa :

Alla selva, al patro, al fonte
Jo m'andrò col gregge amato:
E alla selva, al fonte, al prato
L'idol mio con me verrà.
In quel rozzo angusto tetto,
Che ricetto a noi darà,

Con la gioia, e, col diletto
L'innocenza al berghera1.

Mit welchen wollüstigen Akzenten flossen diese reizenden Gedanken aus dem holdseligen Munde der Masi Ginea! Ein einziger Akzent war mächtig genug, das ganze System, so ich von der Vortrefflichkeit des natürlich wilden Zustandes des Menschen gemacht, aus meinem Kopfe wegzuzaubern! Ich bewundere in Ihnen den göttlichsten der Sterblichen! und der Musen Liebling, den Metastasio, nach Ihnen! Ich bin außer mir! Wer kann der hinreißenden Gewalt der Musik widerstehen? Ich bin trunken von Wonne! Nein, die Musik ist keine von den unglückseligmachenden Erfindungen der Menschen!

Jomelli. Sie sind ein außerordentlicher Mann! Ich weiß nicht, unter welche Klasse ich Sie setzen soll. Wie heißt der Mann, welcher Aristipp und Diogen zugleich ist? Ohne Zweifel Rousseau! Man hat mir so viele wunderliche Dinge von Ihrem Charakter erzählt, daß ich noch über das Kompliment staune, so Sie mir gemacht haben. Kann ein ungeselliger Mann so gut die echte Hofsprache wissen? Kann ein so großer Weiser die Werke eines schwachen Sterblichen bewundern ?

Rousseau. Man sagte Ihnen eine große Unwahrheit, liebster Jomelli, da man mich unempfindlich nannte; ich wünsche viel1 Im Haine, auf Wiesen, an Quellen, werd' ich mit der geliebten Herde gehen; und in dem Haine, an Quellen, auf Wiesen wird mein Amyntas bei mir sein. Das Glück mag uns die schlechteste Schäferhütte geben, die Unschuld wird mit Freuden und Wollust da wohnen.

mehr, die Natur wäre nicht allzu gütig gegen mich gewesen: sie hat meinen Leib mit den zartesten Nerven durchflochten und meinem Herzen feines Gefühl gegeben. Die Tyrannei, der Pfauenstolz, die Unverschämtheit der Großen, die ich das Unglück hatte kennen zu lernen; die Eseldemut, die Liebe zur Sklaverei, der Betrug, Geiz und die Unglückseligkeit der Niedrigen und Kleinen dieser wunderbaren Erde war mir unausstehlich. Ich sonderte mich von diesen ausgearteten Enkeln Adams ab; und wer will es mir verdenken, daß ich nicht beständig vor Schmerz, Verdruß, Mitleiden und Zorn krank sein wollte ? Ich lebe einsam und frei, mitten unter Lärm und Sklaverei, und erfülle die Pflichten eines Weltbürgers. Für den elenden Pöbel wurde ich unempfindlich, ich geißelte und bestrafte ihn für den Verdruß, den er mir verursacht; allein ich wurde kein Menschenfeind. O ich schätze bis zum Enthusiasmus die wenigen Edlen unter ihnen hoch!

Ich verehre die Verdienste, wo ich sie finde. Der Mensch, welchen die Geburt auf den Thron oder in den Schoß des Reichtums gesetzt hat, ist mir ebenso verachtungswürdig, wenn er keine Verdienste, keine seinem Charakter ähnliche Eigenschaften hat, als der Bettler, der Dieb, der ihn bestiehlt. Genie und Charakter adeln, nicht Geburt! Sokrates, Cicero konnten ihren Kindern nicht das feine Gehör, die immer aufschäumenden Lebensgeister, die empfindlichen Nerven mitteilen, die sie selbst hatten! Warum setzte der Schöpfer keine Familie von Engeln, keine Gattung von erhabenen Geschöpfen unter das menschliche Geschlecht, damit es von ihnen könnte regiert werden? Wie glücklich würden wir dann sein! Kein Ochse, kein Pferd, kein Esel und kein Hund gehorcht einem Geschöpfe von seiner Art; dem Menschen aber gehorchen sie! Warum? Sie wissen, daß er ein edleres Geschöpf sei als sie. Und wir wollen anderen Menschen gehorchen? Menschen, die nicht die Verdienste, das Genie und die Talente haben, die wir besitzen? Sind wir nicht auf diese Art unglückseliger als die Tiere? Sehen Sie, das ist die Quelle des mensch

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