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geht - soviel ich weiß, stammt diese Beobachtung von einem unserer eifrigsten Erforscher der Natur-also wenn wir mit mehr Eile als Einsicht Erscheinungen erklären wollen, bevor wir über deren Wirklichkeit im gewissen sind. Es ist nicht Sitte bei den Römern, sagte Festus, einen Menschen zum Tode zu verurteilen, geschweige denn zu martern. — Urteilt denn unser Gesetz über einen Menschen ab, bevor er gehört ist und weiß, was er getan? rief Nikodemus. - Wer antwortet oder urteilt über eine Sache, bevor er sie genau kennt, der ist ein Narr, und Schande komme über ihn! - Wir sind gemeiniglich immer in solcher Eile, unsere Entschließungen zu bewerkstelligen, daß wir uns hinwegsetzen über das Bedenken, ob sie wohl auch gerecht seien — und dann ist die Sachlage dadurch so verändert, daß unsere eigene Narrheit als das Wahrhaftige und die Sache des Angeschuldigten als leere Einbildung erscheint. Solche Wirkungen übt allzu große Eilfertigkeit: wir haben dann einen schlechten Witz gemacht oder sind über unsern eigenen Schatten hergefallen.

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Ein zweiter Weg nimmt schon seinen Anfang, wenn wir anfangen, Nachrichten einzuziehen, um den Fortgang der Sache zu beschleunigen, allein dabei uns so verdächtiger Beweise bedienen, vor denen uns unser Heiland warnt: richte nicht nach dem äußeren Scheine! - In der Tat, hinter den meisten dieser Erscheinungen, welche des Menschen Urteil blenden, liegt die Wahrheit verborgen - und auf der andern Seite gibt es vieles, was nur in der Einbildung besteht und nicht wirklich. Christus kam, aß und trank: Seht doch den Säufer, der mit den Sündern zusammensitzt, das sind seine Freunde!

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In vielen Fällen verschmäht die Wahrheit gleich einem bescheidenen Mütterchen Kunstgriffe, sie hält es für unwürdig, sich vorzudrängen in den Lichtkreis, wo sie genau gesehen wird-Grund genug für den Argwohn, die Anklage zu erheben, und für die Bosheit, sie durchzuhecheln, oder für das rasche Urteil, sich zu erheben und den endgültigen Spruch zu fällen.

Auf eine dritte Art fehlen wir, wenn die Tatsachen zwar weniger Zweifel an der Schuld des Nächsten lassen, wir aber sie mit so herben Anmerkungen begleiten, die ein menschenfreundliches und edelsinniges Gemüt sich niemalen erlauben dürfte. Abscheu gegen alles, was nach Verbrechen aussieht, ist ein so schönes Aushängeschild für diese Unart und hat auch von außen ganz das Kleid der Tugend, daß es in einer Predigt wider das voreilige Urteil nicht angebracht scheint, diesen Fehler in Betracht zu ziehen, und doch behaupte ich, daß bei der reichsten Flut von Verurteilungen, welche der Schuldige verdienen mag, die einfache Zwischenfrage: Wem verdanke ich's, daß ich nicht in derselben Lage bin? - mein Herz stärker rühren und mir die Tadler in einem ernsteren Lichte zeigen würde als die beißendste Anmerkung, die dazu überhaupt gemacht werden könnte. Die Bestrafung eines solchen Unglücklichen ist, fürchte ich, auch ohne diese Zugabe hart genug und wäre sie's auch nicht, so würde es traurig sein, wenn eines Christen Zunge zum Henker sich herabwürdigte.

Wir lesen in der Zwiesprache zwischen Abraham und dem reichen Manne, daß der Patriarch, obschon er im Himmel war und der andere in der Hölle, zu ihm mit freundlicher Rede sprach: Sohn, Sohn, gedenke, daß du in deinem Leben usw. - Und in dem Streit zwischen Erzengel und Teufel um den Leib des Moses erzählt uns Judas, daß jener keine kränkende Anklage gegen ihn erheben durfte: es wäre dies unwürdig seines hohen Ranges und wäre auch wirklich sehr ungeschickt gewesen, denn er würde, wie einer unserer Gottesgelehrten zu dieser Stelle anmerkt, vom Teufel wohl im Schimpfen gewiß überboten worden sein: dies war eben dessen eigene Waffe, und gerade die niedrigsten Seelen verstehen sich nach dem Vorbild ihres Meisters darauf am besten.

Dies führt mich zur Aufdeckung einer vierten greulichen Quelle dieses Übels, und diese ist der Ehrgeiz: für einen Mann von Witz und Bedeutung gehalten zu werden, und nach einem vergeb

lichen Warten auf den ehrlichen Erwerb dieses Titels durch boshafte und beißende Anmerkungen über alle Geschehnisse in der Welt sich ihn zu erschleichen. Das heißt nichts anderes als aus dem Zusammenbruch und dem Falle des Nächsten, vielleicht aus seinem unverschuldeten Unglück einen Gewinn zu ziehen. So viele Vorteile sie auch daraus ziehen mögen - nie sollte es wider ihre Ehre sein, darüber hinaus würden wir solch Tun nur loben wie gewisse Speisen: mit tränenden Augen. Es ist ein höchst anrüchiges Gewerbe, und da es kein großes Kapital erfordert, so verlegen sich gar viele darauf. Und solange es unedle Neigungen gibt, die befriedigt werden wollen, oder enge Hirne, welche urteilen wollen, mag solchen dies als Geist durchgehen-aber gleich niedrigen Verwandten, deren sich die ganze Familie schämt, machen sie doch Anspruch auf die Zugehörigkeit, selbst in der besten Gesellschaft. Welcher Art indes der Grad der Verwandtschaft auch sein mag, so haben sie doch den Witz in Verruf gebracht, wie wenn sein Wesen der Spott wäre. So gewiß es aber einen Unterschied gibt zwischen bitter und salzig, so gibt es auch einen zwischen Bosheit und befreiendem Humor: jene ist nichts anderes als eine rasche Wiedergabe des Erlebten ohne Mitempfinden und eine Gabe des Teufels, die andere kommt vom Vater der Geister, ist rein und weit von allem Persönlichen entfernt und hat nicht die Absicht, jemandem weh zu tun. Und sollte etwas Ungehöriges berührt werden, so geschieht dies mit einer solchen Geschicklichkeit, wie sie ein wahrer Genius besitzt, der die Ungereimtheit in einem neuen Lichte zeigt, so daß sie unbeanstandet hinausgehen kann. Der wahre Witz mag vielleicht lächeln, wenn er Ehrenpforten sieht, die man zum Ruhme eines andern errichtet hat, aber die Bosheit wird sie sofort zu Boden werfen wollen, um aus den Trümmern welche für sich selbst zu errich

ten.

Was denn, ihr voreiligen Tadler der Welt! Habt ihr keine anderen Wohnungen, wo ihr euch breit machen könnt, als jene, aus

denen ihr erst die rechten Eigentümer herauswerfet? Gibt es keinen Ort, wo ihr im rechten Lichte stehen könnt, daß ihr in die finstern Höhlen der Beleidigung und des Unrechttuns hinuntersteigen müßt? Habt ihr keinen anderen Sitz, denn in den Reihen der Spötter? Wenn die Ehre vom rechten Wege abgeirrt ist, oder die Tugend die Grenzen überschritten und sich dem Laster gemein gemacht hat, muß man sie darum gleich in den Abgrund verstoßen? Muß die Schönheit sogleich in den Staub getreten werden, weil sie nur einen Schritt dareintrat

nur einen einzigen? Soll denn keine einzige Tugend oder gute Eigenschaft, neben den tausend edlen Handlungen nicht eine einzige andere ohne Gefahr ertragen können? Großer Gott im Himmel, hilf du!

Aber du bist barmherzig, gütig und gerecht und siehst mit Mitleid auf das Böse, das deine Knechte einander antun -verzeihe uns, wir bitten dich, alle unsere Übereilungen, wenn wir vergessen, daß wir alle Brüder desselben Fleisches mit den gleichen Empfindungen und Schwachheiten sind. O mein Gott, rechne es uns nicht an, daß du uns nach deinem Ebenbilde mitleidig erschaffen hast, daß du uns eine so liebreiche und wohlangemessene Religion gegeben, daß alle Gebote gleich wie ein Balsam gegen die Übel unserer Natur sind, unsere Gemüter zu besänftigen, damit wir hier auf Erden gütig miteinander verkehren können, um in jener andern nebeneinander zu leben auf immer.

MICHAEL REINHOLD LENZ

ollte man es in einen Begriff fassen, was die Generation ver

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te und das Wort erhob, so könnte man wohl keinen besseren finden als: Freiheit der Persönlichkeit. Die Undeutlichkeit des Begriffes entspricht der Undeutlichkeit dessen, was man dachte, tat und wollte. Diese Jugend aus dem Bürgertume fühlte eine neue Welt in sich und mußte als Lehrer und Hofmeister, Schreiber und Elenderes noch in eine andere, alte Welt sich schicken, deren Brauch und Regel sie als schweren Zwang um so mehr empfand, weil kein starker Staat daraus sein Gesetz machte. Das Pathos dieser Jünglinge einer noch rechtlosen Klasse ging wie ein Sturm über die beschnittenen Ziergärten einer höfischen, im Wesen barbarischen deutschen Gesellschaft und wandelte sie in eine wunderliche Wildnis, insofern da und dort ein zierliches Boskett standgehalten, hier aber weiter nichts sonst als natürliches Wachstum blieb. Da man sich vom Leben dieser Gesellschaft ausgeschlossen sah, ihm nur geduldet oder als ein Paria zugehörte, verwarf man mit diesem Leben leidenschaftlich auch dessen Formen nicht nur, sondern die Form überhaupt. Denn was diese Schar Neugekommener als ihren Inhalt besaß das Gefühl das war ungeformt, weil unausgesprochen gewesen bisher, und die Formlosigkeit schien ihnen, die ein Chaos in der Seele trugen, gerade die rechte Form zu sein. Wobei man, da sich das Gesetz der Trägheit wohl erkennend Neues oder vermeintlich Neues was dasselbe ist - um Ahnen stets als Beweisung und Stütze müht, Bildsäulen der Verehrung jenen aufstellte, die der neuen Generation als Götter und Schutzherren ihrer neuen Güter tauglich schienen. Und man formte das Neue nach dem Bilde des venerierten Alten, wie man dies verstand und konnte, und man war von allem Vorbild und aller Regel nur dort frei, wo die wiedergefundene und entzückte deutsche

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