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eder Mensch hat etwas in seiner Natur, das, wenn er es öffentlich ausspräche, Mißfallen erregen würde, sagt Goethe in den Sprüchen. Daß dieses Heimlichste verschwiegen wird, sichert den Bestand der gesellschaftlichen Formen. Denn dieses Heimlichste ist vielleicht ein Rest von Barbarei, den das sittliche Milieu wohl zum Schweigen, aber nicht zum Verschwinden bringen konnte, und den es zum Schweigen bringen kann, wenn es im vollen Besitz unerschütterter und unbezweifelter Kräfte ist. Wo die verbindenden Kräfte dieses Milieus der Sitte in Form und Art nachlassen und sich auflösen, wo sie verfallen aus ungleichen und widerstreitenden Interessen: in sinkenden gesellschaftlichen Kulturen wird das Heimlichste leichter den schönen Mut oder die kühne Frechheit finden, sich zu äußern und das damit erregte Mißfallen zu ertragen. Nietzsche ist so vielleicht ein Zeichen von der Unfähigkeit unserer Zeit zu kultureller Bändigung, Zeichen von einem Verfall der gesellschaftlichen Formen aus ungleichen Inhalten. Man könnte einwenden, daß bei Nietzsche von dem Verfall einer Kultur nicht die Rede sein könne, eher von einem langwierigen Streben, zu einer Kultur zu kommen. Aber Verfall und neue Bildung sind Prozesse, die in der gleichen Zeit spielen und gleiche Erscheinungen fördern. Der Verfall der Kultur des Ancien régime trug die Möglichkeit einer neuen Bildung in sich, und gerade die faulste Erde gab den Humus für ein neues Erblühen. Um diese Zeit lebten Naturen, wie ausersehen, das Ganze des Jahrhunderts in einem Leben wiederzuleben, die Summe zu ziehen und sogar den Epilog zu sprechen. Was sie sagen ist die alte Zeit; wie und weshalb sie es sagen kündet die neue. Das Mißfallen, das das Aussprechen ihres Geheimsten erregte, hob sich langsam von der Person, wurde Staunen, Verehrung; und daß sie es sagte, wurde den Späteren selbstverständlich und nicht weiter merk

würdig: da ist es ein Element der neuen Kultur, ein kultureller Wert geworden. So kann der einzelne in diesem seinem Heimlichsten die Zukunft der Gesamtheit bergen. Die vom Moralismus des achtzehnten Jahrhunderts aufgestellte Forderung von der Rückkehr zur Natur brachten die letzten dieser Zeit als Schrankenlosigkeit der eigenen Natur zu Worte, reserviert noch und mit Bedenken in den allgemeinen Sätzen und befangen im überlauten Echo dieser Worte, das wie aus der Erde kam. Die Trunkenheit des deutschen Sturm und Drang taumelt in der Aufgeregtheit dieser neuen Worte, Laclos gab sie die Schärfe des Gesichtes für das, was die alte Zeit die Liebe nannte, und Rétif brachte eine Welt von unten herauf ans Licht.

Von diesem Rétif sagen französische Kritiker, daß mit ihm eine ganz neue Epoche der Literatur anhob. Seine ersten Bücher erschienen, da das Erotische in die klaudestinen Bücher der Nercial und Sade sich zurückzuziehen anfing und hier sich selbst überlassen Krämpfe bekam. In der öffentlichen Literatur, die auf die Damen Riccoboni und Genlis heruntergekommen war, fingen die Paravents couleur de rose, hinter denen Crébillon und Louvet ihre Paare sich vergnügen ließen, schon an so blaß zu werden wie die Sprache in diesen Romanen dünn und mager wurde und das Abenteuer zur Pastiche. Mit Rétif kam eine menschliche Brutalität in den Kunstinhalt, so neu wie die Menschen, welche die Revolution an den Tag brachte.

Der Mann war eine gewaltsame Natur und ein Narr in mancher Beziehung. Er kam vom Lande her und war ohne die schwächenden Kenntnisse von feiner Form und Sitte, aber auch ohne Geschmack, ohne Macht und Beherrschung. Steht ganz naiv zu seinen Instinkten, die sich ungeschickt der Mittel der alten Kultur bedienen müssen, weil sie aus sich selbst heraus sich noch keine Formen schaffen können. Er redet von neuen Dingen mit alten Worten oder umgekehrt. Kein Wissen der Zeit hat ihn müde gemacht, und nur der Stolz auf seine schlecht

erworbenen halben Kenntnisse läßt ihn sich für einen Denker, für einen Reformer halten. Er ist ein Barbar, dessen Proletenstolz die gute Gesellschaft verachtet und deren Raffinements ihn anziehen, daß er wie ein Kind davon träumt.

In dem vielbändigen, ungeheuerlichen Werk dieses halben Narren wird man Kunst kaum finden, denn er schrieb nichts sonst als seine Lebensangelegenheiten, immer wieder nur dieses; und sein Leben ging ins Formlose, Bizarre, erfuhr von seinem Intellekte keinerlei Bestimmung, daß er es in der Kunst hätte begrenzen können. Er sprach mit großer Leidenschaft von sich das war die inauguration d'une époque litteraire toute nouvelle, von der die Kritiker sprechen. Er übte eine Wirkung.

Schiller schrieb am 2. Januar 1798 an Goethe: „Haben Sie vielleicht das seltsame Buch von Rétif: Coeur humain devoilé je gesehen oder davon gehört? Ich habe es nun gelesen und ungeachtet alles Widerwärtigen, Platten und Revoltanten mich sehr daran ergötzt. Denn eine so heftig sinnliche Natur ist mir nicht vorgekommen, und die Mannigfaltigkeit der Gestalten, besonders weiblicher, durch die man geführt wird, das Leben und die Gegenwart der Beschreibung, das Charakteristische der Sitten und die Darstellung des französischen Lebens in einer gewissen Volksklasse muß interessieren. Mir, der so wenig Gelegenheit hat, von außen zu schöpfen und die Menschen im Leben zu studieren, hat ein solches Werk einen unschätzbaren Wert."

Die Beziehungen Rétifs zu seinen Zeitgenossen sind wenige. Er haßte die Gensdelettres und überwarf sich früher oder später mit allen, die er kannte, wie Linguet, Mirabeau, Beaumarchais und Mercier, um nur die bekannten zu nennen. Einige Salons müssen ihn nach seinem ersten Erfolg bei sich haben; wie ein Wundertier holt man den Mann in schlechten, oft schmutzigen Arbeitskleidern aus seinem unterirdischen Leben in die Gesellschaft der schönen Geister, wo er nur von sich spricht und gar

nicht sich unterhält. Sein naiver Haß zittert vor Genugtuung, und er verspricht sich, den Bart sich wachsen zu lassen und seine Kleider noch schlechter zu tragen, um sich den Genuß seines Stolzes zu erhöhen. Humboldt mußte ihn da im Auftrage von Weimar kennen lernen und berichtet über ihn an Goethe. Er beschreibt ihn als einen großen kräftigen Mann mit einem auffallenden Gesicht: hohe Stirn, dichte Brauen, weitvorspringende Habichtsnase, volle, sinnliche Lippen.

Die wenig bemittelten Eltern wollten den Jungen in die Kirche geben, aber ein Onkel fand bei dem zehnjährigen Rétif, daß er sich zu sehr für die Frauen interessiere, und wenn das auch kein Fehler sei, so sei es doch auch wieder nicht das Wesentliche für den geistlichen Beruf. Er verliebt sich in alle Mädchen und hat es mit zwölf Jahren zum Vater gebracht. Er muß damit die Leistungsmöglichkeit seines Heimatsdorfes erschöpft haben, denn er ging alsbald nach Paris und wurde da Lehrling in einer Druckerei. Er verfaßte für seine Kameraden deren Liebesbriefe und bestellte sie auch. Die Freundlichkeit der Mädchen, auf die der Bote Eindruck machte, ließ ihn weitergehen, und er bekam dafür von den Kameraden Prügel. Er hungerte, um Geld für die Liebe zu haben, deren Zärtlichkeiten zu entbehren ihm schwerer zu tragen ist als jedes andere. Er sieht sich plötzlich verheiratet und weiß nicht, wie er dazu kam. Mit dreißig Jahren nennt er sich stolz Autor; sein drittes Stück bringt ihm Geld und macht Aufsehen. Er kommt zu Vermögen, gründet eine Druckerei und verliert sein Geld in den Assignaten. Von nun ab ist sein Leben allen Unglücks voll, und alle Manien, die in dem Manne lebten, bringen seine Existenz in Wirrnis und Ungemach. Er läßt sich scheiden und lebt zusammen mit seiner geschiedenen Tochter, von deren Mann er bis ans Ende für sein Leben fürchtet. Und schreibt unermüdlich, druckt seine Werke selbst auf der einen Presse seines armseligen Ladens, und schreibt sie oft gar nicht mehr, sondern setzt sie gleich ohne jede hand

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