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as französische achtzehnte Jahrhundert schuf eine Literatur

Da

und das Phänomen des Literaten, aber einen Dichter hatte diese Zeit nicht, und sogar der Begriff der Dichtung schien ihr verlorengegangen: alle Anstrengungen auf die Dichtung hin ergaben nichts als hinfällige Produkte, wie Voltaires Tragödien oder Popes Versuch über den Menschen oder Thompsons Jahreszeiten, deren lächerliche Verlogenheit Buffon, dessen Geist wohl dieses Jahrhunderts war, nicht aber dessen Talent, mit ihrem Anspruch auf Dichtung unbegreiflich fand. Montesquieu konnte die Dichtung und nicht nur von der seiner Zeit sagte er es überhaupt albern und wertlos nennen. Diese Feststellung, daß die Zeit, die sich im Reimen nicht genugtun konnte und es als ein Gesellschaftsspiel trieb, kein einziges Gedicht zustande brachte, soll keine aburteilende Wertung der Zeit sein, sondern nur einen wesentlichen Charakter ihrer Literatur kurz aufzeigen.

Alle europäische Zivilisation ist seit dem Verfall der antiken Welt entweder christlich oder sie ist überhaupt nicht; ist entweder seit der Renaissance national gerichtet oder ist überhaupt nicht. Das Christliche und das Nationale sind die Voraussetzungen der europäischen Zivilisation, nicht deren Zweck, für den die Völker tätig leben. Als Zweck gefaßt würden sie die Zivilisation ebenso hindern, wie sie als Voraussetzung unbedingt nötig sind. Zum Zweck erhoben, gäbe das Christliche einen ins Sterben erstarrenden Klosterstaat, gäbe das Nationale eine nichts als Politik treibende, immer kampfgerüstete unruhige und sich selbst verzehrende Volksgemeinschaft sehr barbarischer Art. National sein heißt nicht, sein Volk über andere Völker stellen, sondern in Verpflichtung an die traditionelle Bedeutung dafür sorgen, daß diese Bedeutung sich erhalte und mehre. Das Nationalgefühl ist Verantwortung sich bewußter Stolz auf nichts sonst als ein geistiges Gut.

Die Zivilisation des achtzehnten Jahrhunderts war bewußt kosmopolitisch mit französischer Aussprache. Daß die französi

sche Sprache, und nicht nur sie, das außerfranzösische Europa beherrschte, verstärkte noch die Teilnahmlosigkeit der Franzosen ihrem eigenen Lande gegenüber, gab ihnen in ihren Augen recht, den Begriff des Vaterlandes lächerlich zu finden, da man ja überall von unbekanntem Volke in Wäldern und Sümpfen abgesehen französisch sprach. Man war in der Welt Bürger, da man nicht Bürger in einem Staate war: im Staate war man nur einem Monarchen tributär, der feudal eine Gesellschaft in Zins und Steuer nahm, die nicht mehr feudal war. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts begann diese fundamentale Änderung in der Reichtumsverteilung, als welche eines der wichtigsten Momente für den Charakter der Literatur der Zeit bedeutet. Es ist auffallend, daß diese Zeit bei tatsächlicher außerordentlicher politischer Interesselosigkeit eine bedeutende allgemein-politische Literatur geschaffen hat. Die neuen Reichen, die in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts in die Gesellschaft traten, hatten noch kein politisches Mittel ausgebildet oder mochten keines ausbilden, da es ihnen hinter dem Absolutismus noch besser zu gelingen schien, ihren neuen Reichtum, der nicht ganz solide erworben war, zu mehren. Diese neuen Reichen, die weder durch Familie noch durch Tradition einen Zusammenhalt hatten, wie ihn der frühere Adel besaß, eigneten dafür alle feinen Sinne des Freigelassenen sie gingen auf Bildung aus, waren neugierig, an der öffentlichen Meinung — ihre Schöpfung mit Hilfe der neuen Literaten lebhaft interessiert, liberal in Sitten und Anschauungen aus Unsicherheit ihrer eigenen Position, und sie waren wie alle neuen reichen Snobs: Versailles imponierte ihnen trotzalledem; und diese neuen Schriftsteller, die sich mit ihnen gemein machten, trotzdem sie vom Adel, wenn auch oft vom kleinsten, waren, imponierten ihnen auch, so sehr, daß sie sie bezahlten. D. h.: sie kauften die Bücher, und der Schriftsteller brauchte kein Amt mehr, um davon zu leben, brauchte keine Gelehrsamkeit mehr, um sich auszuweisen, brauchte keinen adligen Patron

mehr, um nicht zu verhungern: der schreibende Mensch war frei geworden und diente seinen Befreiern, dem neuen Bürgertum, dessen Optimismus er teilte, dessen Meinungen er aussprach, dessen Denken er formulierte: für alle künftigen Zeiten ist der Typus Schriftsteller fixiert und in der Definition der Bourgeoisie mitbeschlossen. Die Rolle der Frauen ist hier wie sonst in dieser Zeit keine geringe. Das große Jahrhundert war, man denke an Molière, mit den Frauen nicht sehr gnädig verfahren, wie es überhaupt nicht geneigt war, liebenswürdig zum Menschen zu sein, im sehr pessimistischen Denken sowohl wie in der bitteren Satire der Künste. Das änderte sich durchaus im achtzehnten Jahrhundert, der Zeit des ruchlosen Optimismus, wie ihn alle Emporkömmlinge als ethischen Fond brauchen.

Das abnehmende Nationalgefühl und den damit koinzidierenden Verlust der Tradition hat man als die eine bestimmende Ursache, die den Charakter der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts gab, angesprochen, als die andere den zunehmenden Verfall der christlichen Idee und das mit ihm koinzidierende Aufkommen dessen, was man den wissenschaftlichen Geist nennt. Das nationale Gefühl trat zurück, weil man den „Menschen" entdeckte in dem Augenblick, als die alte gesellschaftliche Hierarchie von der Tatsache des neuen Reichtums umgeworfen wurde: diese neuen Leute, die gestern Lakaien, heute Schloßbesitzer waren, konnte man im alten Kanon nicht unterbringen; so hob man ihn theoretisch, dies zuerst, auf und stellte das Lieblingsthema des Jahrhunderts, den allgemeinen Menschen fest, dessen Rechte man 1789 formulierte: aber da war der allgemeine Mensch im Laufe der achtzig Jahre schon ein ganz deutlicher TiersEtat geworden.

Konform damit erfuhr auch der bisherige göttliche Kanon eine Änderung dahin, daß die Menschen nicht mehr nach der Idee Gottes orientiert wurden, sondern nach der Idee des Menschen: das naturwissenschaftliche Zeitalter, dessen Ende sich

heute ankündigt, hob in diesem ersten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts an. Das sozusagen mathematische siebzehnte Jahrhundert äußerte sich verächtlich über die Beobachtung der Dinge, mit Malebranche etwa:,,Man billigt die Mühe kaum, die sich einige damit gegeben haben, uns zu zeigen, wie gewisse Insekten gemacht sind. Es ist wohl erlaubt, sich damit zu unterhalten, wenn man sonst nichts zu tun hat, und um sich zu zerstreuen.“ Die Ärzte, deren Wichtigkeit mit zunehmender Stadtkultur wuchs, traten an die Stelle der Denker, die diese erste Periode des achtzehnten Jahrhunderts nicht hatte; in der Montesquieu Frösche sezierte, wie alle Welt und auch die Damen, die nun nicht mehr précieuses, sondern savantes hießen. Man kümmerte sich mit der Neugier des Kindes um,,die Gesetze der Natur“, und man ist sicher, den Menschen bald definieren zu können ohne metaphysische oder religiöse Hilfen; die laxen Sitten der Regentenzeit - die Zeit der ersten Industrieritter- und die in eine menschliche Relativität aufgelösten moralischen Grundwerte befruchteten sich wechselseitig. So ist die christliche Idee wie auch der Begriff der Tradition nur mehr in ihrer Negierung vorhanden. Die Negierung der alten Werte, wie sie dieses Kindheits- und Knabenalter der modernen Zeit mit einer oft prachtvollen Frechheit, einem naiven Glauben und manchmal sogar mit einem Großmut des Herzens trieb: sie ist der wesentliche Charakter dieser Zeit, die bis auf heute das Paradox liebt, unmenschlich menschlich zu sein. Die positiven Werte, welche man aufstellte, haben den provisorischen und problematischen Charakter ihres Ausgangspunktes, der ,,das Individuum" ist: ein schwächlicher Psychologismus zweihundert weitere Jahre suchen ihn zu kräftigen -stützt sich auf zwei Krücken: die Vernunft und das Gefühl. In den Rationalism und den Sentimentalism ist diese Welt geteilt, die sich beide das Religiöse ist nicht aufzuheben - vergöttlichen, ein bißchen später sogar bis zum Kult einer Göttin der Vernunft. Der seltsamen, bisher un

bekannten Mischung einer larmoyanten Obszönität begegnet man in Lebensläufen und im Geist der Bücher; eine moralisierende Unmoral gefällt; die Vernunft putzt sich auf, macht sich in Äußerungen abstraktesten Inhalts dialogisch oder in Briefform gefällig; das Gefühl theoretisiert; und der Witz, ein ungläubiger Abbé, kopuliert das barocke Paar. In dem Maße, als der neue Geist gegen den alten Geist gewinnt, gibt er sich Haltung, ja wird sogar konservativ. Die groben Atheisten wie Holbach verlieren im Kurs, andere, die besser die Zeit wittern, wie Voltaire, werden friedlich und lassen den lieben Gott wieder die Waffen segnen, mit denen sie ihn bekämpfen; der bourgeoise Glaube an Gott, halb Ruhekissen, halb Geschäft, kündet sich an.

Mit einem menschlichen Einzelleben verglichen, war dieses neue Zeitalter dreißig geworden, als es das genügende Embonpoint der Leistung hatte, um sich breit und moralisch gesichert in die Welt stellen zu können, in der sie keinen Platz, sondern die sie ganz beanspruchte: die Revolution schuf den Platz, von dem aus der neue Geist die Welt gewann. Die Revolution ist eine Etappe auf dem Wege, der zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts anhub und der sich heute seinem Ende zuneigt, wenn die Zeichen nicht trügen. Mitnichten ist die Revolution das Ende einer alten Zeit sie warf aufs Pflaster nur Gerümpel, das zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ins neue Haus noch mitgenommen wurde und sie ist nicht Beginn einer neuen. Der Geist der modernen Zeit, die einen Vauvenargues, diesen Spätling des großen Jahrhunderts, symbolisch jung sterben ließ und Voltaire sie mit seinem ganzen langen Leben begleiten, dieser Geist schuf sich in der Revolution nur die politischen Fixierungen. Was man als den neuen Geist des Zeitalters nach der Revolution als dieses Jahrhundert charakterisierend in Anspruch nimmt, das sind Vorläufer einer kommenden Zeit, nicht Ausdruck und Zeichen der modernen. Chateaubriand, Keats, die deutsche Romantik, Hölderlin, Kierkegaard, Newman, Hello, Dosto

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